Lea: Im März ist dein Roman „Der Bandit“ im Akres Verlag in dessen Belletristik-Reihe istolé erschienen. Uns erwartet ein spannender Brasilien-Roman vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts über einen jungen Bauernsohn, der um sich eine verschworene Gemeinschaft von Gesetzeslosen vereint und dem Unrecht im Land den Kampf ansagt. Wie viel von der Geschichte deines Protagonisten ist wahr, wie viel erfunden? Und wie findet man da die richtige Mischung?
Dirk: Der Roman basiert auf tatsächlichen Ereignissen, an denen ich mich orientiert habe. Auch die Schauplätze, von denen ich einen Teil besucht habe, sind real. Natürlich musste ich eine Dramaturgie und viele Dialogszenen entwerfen, aber die wichtigsten Eckpunkte habe ich so beibehalten, wie sie tatsächlich passiert sind. Es lässt sich nicht genau beziffern, aber ich würde sagen, dass etwa 60 Prozent wahr ist und 40 Prozent erfunden oder zumindest ausgeschmückt. Zum Beispiel sind die Begegnungen Lampiãos mit der mystischen Figur des Pajeú, eines Heilers der einstigen indigenen Bevölkerung der Region, frei erfunden. Aber sie dienen dazu, die Welt der Mythen und Legenden des Nordosten Brasiliens einzufangen. Zudem bietet er sich als eine Art moralischer Kompass für Lampião an, der sich auf die Verse des Pajeú zunächst keinen Reim machen kann. Und letztlich bringt die Figur ein wenig Poesie in die Geschichte. Und natürlich spielt auch die Liebe eine wichtige Rolle. Lampião und seine Gefährtin Maria Bonita (die schöne Maria) werden bis heute im Nordosten in Legenden bewundert und in Liedern besungen. Vieles davon ist wahr, einiges erdichtet.
Der Bandit – März 2024 – Akres Verlag
Im Nordosten Brasiliens herrschen um 1900 die Grundbesitzer nach ihren eigenen Gesetzen. Doch der Bauernsohn Virgulino widersetzt sich eines Tages der Willkürherrschaft und sammelt eine verschworene Gemeinschaft von Gesetzlosen um sich. Unter dem Namen Lampião beginnt er einen Guerillakrieg gegen das Unrecht, der bald den gesamten Nordosten Brasiliens dominiert. Doch je erfolgreicher er ist, desto gnadenloser wird er gejagt, und auch vor Verrat kann er nicht mehr sicher sein. Dem Autor und Brasilienkenner Dirk Hegmanns gelingt mit diesem Roman ein authentisches und faszinierendes Bild von Brasilien in einer Zeit, die den Beginn großer Umwälzungen in der Gesellschaft des Landes markiert.
Lea: Brasilien ist deine Wahlheimat, du verbringst jedes Jahr lange Monate dort. Was verbindet dich mit Brasilien?
Dirk: Ich habe Brasilien – und vor allem den Nordosten des Landes – schon als Student kennengelernt, als ich dort einige Forschungsprojekte für mein Studium durchgeführt habe. Solche Projekte und meine spätere Tätigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit haben mich über viele Jahre hinweg immer wieder dorthin geführt. Insgesamt habe ich dort etwa 15 Jahre lang gearbeitet, und so ist Brasilien zu meiner zweiten Heimat geworden.
Lea: Du schreibst Gesellschaftsromane und willst Geschichten erzählen, die es wert sind, erzählt zu werden. Wie findest du diese Geschichten? Was genau „triggert“ dich? Wann ist eine Geschichte es „wert“, erzählt zu werden?
Dirk: Ich frage mich nicht andauernd: „Welche Geschichte könnte ich als nächstes erzählen?“ Ich habe eher das Gefühl, dass die Geschichten mich finden und nicht umgekehrt. Meistens fängt es so an, dass mir ein Thema ins Auge springt, ich dann tiefer in die Materie einsteige und mich weiter informiere, weil es mich halt interessiert. Dabei denke ich oft noch gar nicht daran, etwas darüber zu schreiben. Dies passiert erst, wenn ich denke, dass das Thema für bestimmte Zielgruppen interessant und auch relevant sein könnte. Im Roman „Der Bandit“ geht es z.B. darum, dass sich jemand nicht mit seinem Schicksal abfindet und eine Veränderung herbeiführen will. Dies ist auch auf andere Kontexte übertragbar. Zudem ist es ein spannendes Stück brasilianischer Geschichte, das außerhalb des Landes kaum bekannt ist.
Lea: Du hast dein ganzes Berufsleben in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und seit dem Erdbeben in Haiti 2010 schwerpunktmäßig in Krisen- oder Kriegsgebieten gearbeitet. Wie hat diese Arbeit dein Schreiben beeinflusst? Wie bringt man Erlebtes lebendig in Romanen unter?
Dirk: Meine Arbeit in Brasilien, in afrikanischen Ländern und in der Türkei hat mich natürlich sehr beeinflusst, da ich dadurch immer wieder auf Themen gestoßen bin, die ich dann in Romanen verarbeitet habe. Ich kann auf Unmengen von Eindrücken zurückgreifen, die mir dabei helfen, eine Geschichte authentisch erscheinen zu lassen. Ich habe mich sozusagen in anderen Wirklichkeiten bewegt, die ich den LeserInnen nahebringen möchte, da man sich in Deutschland kaum eine Vorstellung davon machen kann. Z.B. mein nächster Roman „Kriege in der Mitte der Welt“, der im Oktober ebenfalls im Akres Verlag erscheinen wird, hat die Flüchtlingsproblematik sowie die Entwicklung der Türkei hin zur Autokratie zum Thema, eingebettet in eine Liebesgeschichte. Dies ist ein sehr aktuelles Thema, und der Roman soll hier auch ein wenig zum Nachdenken anregen.
Lea: Was war in dieser Zeit dein dramatischstes Erlebnis?
Dirk: Wenn man in Krisen- oder Kriegsgebieten arbeitet, bleiben heikle Erlebnisse nicht aus. In Nicaragua wurde ich – zusammen mit einigen anderen Deutschen – von den sogenannten Contras, die den ehemaligen Diktator Somoza unterstützten, entführt. Wir sind dann einen Monat lang durch den Dschungel und die Berge gestapft, bis wir nach schwierigen Verhandlungen wieder freigelassen wurden. Während der Zeit sind wir in etliche Gefechte geraten, und es war fast ein Wunder, dass wir das überlebt haben. Ich habe während dieser Zeit extreme Gefühle durchgemacht, wie Todesangst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit etc. An diesem Trauma hatte ich länger zu“ knacken“ gehabt, aber das Schreiben hat mir damals sehr geholfen. Diese Ereignisse habe ich dann als Reportage im Rowohlt Verlag veröffentlicht.
Auch in der Türkei gab es solche Erlebnisse, als z.B. zwei Raketen des Islamischen Staats hinter mir einschlugen, während ich gerade die Kleinstadt Kilis verließ, die direkt an der Grenze zu Syrien liegt. Aber trotz aller Widrigkeiten habe ich diese Arbeit stets mit Leidenschaft gemacht.
Lea: Um einen Roman zu schreiben, braucht man einen langen Atem. Du hast jetzt schon viele Romane geschrieben – und das neben deiner sehr intensiven Arbeit. Wie teilst du dir das ein?
Dirk: Ich habe sieben Romane und fünf Sachbücher unter meinem Namen veröffentlicht. Dazu noch vier weitere Romane unter einem Pseudonym. Meistens habe ich abends und an den Wochenenden geschrieben. Meine Arbeit war stets mit enormem Stress verbunden, aber das Schreiben hilft mir auch, davon abzuschalten und in eine andere Welt einzutauchen. Dabei ist mir Kontinuität sehr wichtig. Das heißt, möglichst jeden Tag zumindest ein paar Zeilen zu schreiben, auch wenn es noch so schwerfällt. Inzwischen habe ich mehr Zeit und Ruhe zum Schreiben, und ich habe noch einige Projekte im Kopf, die ich in den nächsten Jahren umsetzen will.
Lea: Recherche ist bei dir auch ein wichtiges Thema. Wie gehst du da vor? Und vor allem auch: Wann weiß man, dass man (erst einmal) genug recherchiert hat? Denn natürlich soll man sich in der Recherche auch nicht verlieren …
Dirk: Ich schreibe keinen Roman, der nicht vernünftig recherchiert ist. Ich stecke sehr viel Zeit in die Recherche. Bei einigen Büchern hat es Jahre gedauert, bis ich genug Material zusammengesucht hatte, insbesondere in der Zeit, als Google und das Internet generell noch nicht so gut für den Alltagsgebrauch aufgestellt waren. Für den „Banditen“ – wie für fast alle anderen Romane – konnte ich einige Originalschauplätze besuchen, wo ich mich dann irgendwo in der Landschaft hingesetzt habe, um die Atmosphäre zu spüren und mir vorzustellen, wie es damals war. Aber natürlich kann man nicht jedes Detail akribisch nachverfolgen, denn dann wird das Buch nie fertig. Bei der Planung frage ich mich immer: was muss, was sollte und was könnte im Roman auftauchen. Entsprechend muss ich dann auch recherchieren. Dazu kontaktiere ich auch Experten, die sich mit bestimmten Fachgebieten auskennen, damit ich z.B. bei technischen Sachverhalten keine Fehler mache. Ebenso sind Berichte oder Interviews mit Augenzeugen oder Gespräche mit Betroffenen wichtig. Beim Schreiben selbst fallen mir dann von Zeit zu Zeit noch Dinge auf, die ich nachrecherchieren muss, aber ich denke, das ist für jede/n Autor/in normal.
Lea: Viele Autoren haben Angst vor Kritik – oder wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Wie setzt du dich damit auseinander? Hilft dir Kritik oder frustriert sie dich?
Dirk: In den Anfängen meines Schreibens hat mich Kritik oft frustriert, aber wenn ich dann in mich gegangen bin und Abstand zum eigenen Text gefunden hatte, konnte ich sie akzeptieren. Heute denke ich, dass Kritik dann am besten ist, wenn sie „gnadenlos“ ist. Daher fand ich den Austausch mit dir auch immer recht produktiv. Beim Kritisieren sollte man kein Blatt vor den Mund nehmen und ehrlich sein, denn von Gefälligkeitskritik hat man nichts. Ich will lernen und mich weiterentwickeln. Aber ich denke, man braucht einige Zeit, um zu lernen, Kritik anzunehmen als das, was sie tatsächlich ist: ein Werkzeug, um besser zu werden. Man darf Kritik am Text auf keinen Fall als Kritik an der eigenen Person verstehen. Wichtig dabei ist es, Abstand vom Text zu gewinnen und ihn sich nach ein paar Monaten noch einmal vorzunehmen. Das ist vielleicht der schwierigste Teil für Autoren, die ihr Buch möglichst schnell in einem Verlag unterbringen wollen.
Lea: Wer ist dein „schärfster“ Kritiker? Hast du einen Schreibbuddy?
Dirk: Ich gebe meine Manuskripte immer einem meiner besten Freunde. Er ist Journalist und sagt mir ehrlich, was er davon hält. Er kennt den Prozess, da er selbst auch schon einige Bücher veröffentlicht hat. Und ich habe auch kein Problem damit, wenn er zu einer Szene sagt: „Ich finde, das ist absoluter Mist! Streichen oder neu schreiben!“ Im ersten Moment mag harte Kritik vielleicht schwer zu verdauen sein, aber letztendlich verhilft sie mir dazu, einen guten Roman zu schreiben.