Schreibtipp 1: Figuren einführen oder: "Breite ohne Tiefe = Länge"
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Hallo Ihr Lieben,
im letzten Newsletter habe ich euch Schreibtipps versprochen und ihnen den auf den ersten Blick vielleicht etwas eigenartigen Titel: „Breiter ohne Tiefe ist Länge“ gegeben. In Wahrheit ist dies eine Kurzformel, die dem Autor dabei helfen soll, die größte Falle beim Figurenbeschreiben zu vermeiden: den Irrglaube, dass man viele Worte aneinanderreihen muss (=Breite), um eine Figur lebendig werden zu lassen. In Wahrheit passiert dabei nur eines: Man langweilt den Leser (=Länge). Es sei denn, man schafft es, seinem Bild Tiefe zu geben.
„Breiter ohne Tiefe ist Länge“: Um Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen, reicht es nicht, einfach nur mehr (=„breiter“) zu schreiben, also mehr zu be-schreiben, sondern man sollte sich genau überlegen, WELCHE Details man auswählt und WIE man sie einführt. Denn wenn man nur Informationen anhäuft, ohne diese aufeinander abzustimmen, ohne sie „aufzubauen“, erzeugt man beim Leser nicht nur KEINE Bilder, sondern sogar Langeweile.
Ein Beispiel: Die Frau stand an der Straßenecke. Sie hatte gerades, glatt herabhängendes Haar. Ihr Mund war wunderschön und kirschrot, ihre Nase war weder zu groß noch zu klein, ihre Augen waren mittelgroß und ziemlich blau.
Was meint ihr? Passt das so? Gibt das ein lebendiges Bild der Figur? Nun, eher nicht, oder? 😉
Und wenn man noch ein paar mehr Details einfügt? Wird es dann besser?
Zweiter Versuch: Die Frau stand an der Straßenecke. Sie hatte rotes, gerades, glatt herabhängendes Haar, das sie mit einem Band zurückgebunden hatte. Ihr Mund war ziemlich groß, wunderschön und kirschrot, ihre Nase war weder zu groß noch zu klein, ihre Augen waren mittelgroß und himmelblau. Sie trug Jeans und ein weißes T-Shirt, das ziemlich eng war.
Nun, ich finde, es wird eher schlimmer als besser.
Aber warum? Mehr Details sollten uns eine Person doch deutlicher vor Augen führen. Offensichtlich aber ist dies nicht so.
Der wichtigste Grund ist, dass die Details oben sich nicht ergänzen, sondern nur aneinandergereiht wurden UND dass die Informationen statisch bleiben, weil sie nicht in die Handlung eingewoben sind. Mehr (= breiter) bringt also keine (Figuren-)Tiefe, kein intensiveres Bild, sondern man langweilt den Leser nur (=Länge).
Hier ein neuer Versuch, bei dem ich einen von vielen möglichen Tricks anwende: Ich beziehe die Perspektivfigur in die Beschreibung der neuen Figur ein:
An der Straßenecke entdeckte Mike im Lichtkegel der Straßenlaterne eine mittelgroße Frau. Unwillkürlich wich er hinter einen Mauervorsprung zurück. Das sollte Susan sein? Er hatte eine feiste Mittvierzigerin, aber keine solche Rassefrau erwartet. Durch das enganliegende weiße T-Shirt, das sie zu verwaschenen Bluejeans trug, waren die Konturen ihres üppigen Busens mehr als nur zu erahnen und ihre vollen Lippen waren so verführerisch rot, dass er keinen Mann kannte, der sie nicht würde küssen wollen.
Oder hier – noch mal anders aufgebaut:
An der Straßenecke entdeckte Mike im Lichtkegel einer Straßenlaterne eine mittelgroße Frau. Unwillkürlich wich er hinter einen Mauervorsprung zurück. Das sollte Susan sein? Er hatte eine alte, aufgetakelte Nutte erwartet, aber nicht eine solche Elfe. Er schätzte sie auf kaum zwanzig, fand sie erschreckend dünn und viel zu blass, ein Eindruck, der durch ihre übergroßen Augen und die weinrot angemalten Lippen nur noch verstärkt wurde.
Fällt es euch jetzt schon leichter, euch die Figur vorzustellen? Das zumindest hoffe ich, und dies, obwohl ich kaum etwas über die Figur gesagt habe, viel weniger jedenfalls als in der ersten und zweiten Beschreibung.
Der Unterschied der beiden unteren Beschreibungen zu oben ist:
- Die Frau wird von jemandem gesehen – es gibt also eine Perspektivfigur, die diese dem Leser näherbringt.
- Diese Perspektivfigur hatte Erwartungen. Und man merkt, wie die Frau auf den Betrachter wirkt. Das lässt die Frau auch für uns lebendiger erscheinen.
- Es gibt zwar nur sehr wenige Detailbeschreibungen, aber sie sind die für den BETRACHTER in diesem Moment relevanten(!).
- Wichtig: Die Details widersprechen sich nicht, sondern ergänzen einander und vervollständigen das Bild.
Reiht also Beschreibungen nicht aneinander, sondern versucht, mit wenigen Worten das große Ganze zu vermitteln – und das aus der Sicht des Betrachters.